12. Naomi

 

Zum ersten Mal hat mich meine Krankheit daran gehindert, meine redaktionellen Verpflichtungen zu erfüllen. Es ist klar, dass sich mein Gesundheitszustand jeden Tag verschlechtert. Es ist ein Segen, dass ich Alicia in diesem entscheidenden Moment kennen gelernt habe. Zum ersten Mal kann ich mich nicht wehren und brauche Hilfe. Ich fange an, die schmerzhafte Präambel des Todes zu fühlen. Ich mache mir Sorgen um das Interview mit der jungen Naomi. 

Sie gibt mir etwas, dass mir vertraut ist, so als ob ich sie in einem früheren Leben getroffen habe.  Auf der anderen Seite, fühle ich, dass es ernsthafte Ereignisse mit sich bringt, die ich nicht ändern kann, bevor ich das kurze Leben verlassen werde. Alicia scheint meine Unruhe zu teilen: Sie haben vielleicht Angst vor einem Rivalen, denn Naomi hat den Vorteil eine sehr anmutige junge Frau zu sein. Sie hat einen mittleren Teint, ihre langen Haare sind in einer  eleganten Kastanienfarbe und ihre harmonischen Formen, machen sie zu einer sehr attraktiven jungen Frau.     

Sie kommt  von meinem Agenten begleitet in den Raum. Sie scheint unruhig oder vielleicht nervös zu sein. Sie betrachtete mich, wie ich in mich zusammengesunken auf der Couch liege. Sie müssen diesen unangebrachten Moment für dieses Interview verstehen. Wenn ich sie ansehe, fühle ich ein tiefes Mitleid in ihrem Blick. Sie scheint meine Krankheit zu fühlen,  so als ob wir uns schon mal getroffen hätten. Ich biete ihr an, im dem daneben stehenden Sessel zu sitzen. 

»Nun, Naomi, was ist so wichtig, dass Sie mir es jetzt sagen müssen?" 

Sie macht eine Geste sich zu setzen, aber sie bleibt stehen, was mich beunruhigt . Sie wechselt einen Blick mit meinem Agenten und mit Alicia, die neben mir sitzt, auf einem der Lehnen der großen Couch: Könnten wir  für ein paar Minuten alleine sein, bittet sie mich sichtlich nervös. Was ich zu sagen habe, ist sehr persönlich.

Mein Agent ändert seinen Blick zu mir und Alicia sorgt sich ,da sie glauben muss, dass die junge Frau  definitiv eine gefürchtete  Rivalin ist. Wenn ich sie bitte, uns alleine zu lassen, wird sie denken, dass ich kein Vertrauen in sie habe, aber jetzt bin ich sehr daran interessiert, was die junge Dame  mir sagen will. Ich bitte sie, uns alleine zu lassen. Alice kann nicht umhin, mir einen traurigen Blick zu zeigen um zur gleichen Zeit meine Meinung zu ändern, aber sie respektiert meinen Wunsch. Die beiden verlassen den Raum ohne jeden Vorwurf. Naomi folgt ihnen mit den Augen und scheint erleichtert zu sein, als sich die Tür hinter ihnen schließt. Für einige Momente, in denen es scheint, dass sie ihre Gedanken befiehlt  sich zu beruhigen, lenkt sie ihren Blick von einem unbestimmten Punkt des Bodens. Dann hebt sie ihre Augen und fragt mich sichtlich aufgeregt: Erinnern Sie sich, wer diesen Vers geschrieben hat?: 


Wenn dein Herz Schaum wäre, würde ich der Ozean sein;    

Wenn deine Seele der Himmel wäre, wäre ich die Wolke;    

Wenn dein Blick Regen wäre, würde ich  das Feld sein;    

Wenn deine Hände Wasser wären, wäre ich durstig.     


Es ist wie ein Blitz, der meinen Kopf kreuzt. Ich habe eine mächtige Intuition, aber ich weigere mich, es zuzugeben. Wie kam dieses Gedicht zu dieser jungen Dame? Ich antworte nicht, aber ich bin derjenige, der die nächste Frage stellt und  fühle, dass meine Atmung schwer wird und mein altes Herz gerührt ist: Wer hat es geschrieben? 

Sie schaut mich an und ich fühle in ihren Augen eine tiefe Angst. Sie ist am Rande des Weinens. 

»Meine Mutter schrieb es vor zwanzig Jahren...! 

Sie schweigt, um leise zu weinen und bedeckt ihr Gesicht mit ihren Händen. Sie wagt es nicht, mich anzusehen. Ich fühle mich benommen und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich stelle mir die Frage, auf die ich gespannt auf eine Antwort warte: Ist diese junge Dame meine Tochter? Wenn ja, wie könnten sie all diese  Jahre verbracht haben, ohne dass ihre Mutter es mir gesagt hatte? Ein paar Wochen vor meinem Verrat liebten wir uns ohne Vorsichtsmaßnahme zu treffen. Aber wie soll ich mich jetzt ihr gegenüber verhalten? Ich spüre keine plötzliche väterliche Zuneigung für jemanden, den ich nicht kenne, auch wenn es meine eigene Tochter ist. Um uns kennenzulernen, bräuchten wir mehr Zeit, damit wir  eine normale Vater-Tochter-Beziehung  pflegen könnten.

Auf der einen Seite erfüllt mich diese Nachricht mit Freude, aber auf der anderen betrübt sie mich, denn seit zwanzig Jahren habe ich ihre Existenz ignoriert und auch wenn ich es jetzt weiß, habe ich nur noch ein paar Monate Zeit. Ich habe es geschafft, meine Ruhe zurück zu gewinnen, nun muss ich vernünftig handeln.

Ich hoffe, dass sie auch wieder ihre Ruhe zurück gewinnt, damit sie mir meine vielen Zweifel erklären kann. Wo ist deine Mutter? Warum hat sie meine Tochter all die Jahre von mir ferngehalten? 

Meine vermeintliche Tochter beruhigt sich und hört auf zu weinen. Sie wendet sich mit einem Blick des Flehens zu mir, da sie erwartet, dass ich ihr in gewisser Weise zeige, dass ich sie adoptiert habe. Aber ich brauche einige Antworten: Liebe Naomi, Sie müssen verstehen, dass diese Situation für mich sehr verwirrend ist. Ich kann mich nicht in wenigen Augenblicken wie ein Vater verhalten. Beruhigen Sie sich und sagen Sie mir, warum Sie mich nicht früher kontaktiert haben. Wo ist Ihre Mutter? Lassen Sie meinen Agenent und Alicia zu mir kommen, sie sind absolut vertrauenwürdig und können anwesend sein. Ich darf ihnen kein Misstrauen entgegen bringen. 

Meine vermeintliche Tochter zeigt mir ein leichtes Nicken, als sie ihre Tränen getrocknet hat und versucht ihre Ruhe zurückzugewinnen. Ich rufe meinen Agenten und Alicia  herein und setze sie über die neue Situation in Kentniss. Beide sind ratlos und wissen nicht, was sie sagen sollen. Alicia nähert sich Naomi und versucht, durch streicheln ihrer langen seidigen Locken sie zu trösten. Naomi dankt ihr mit einem Lächeln. Sie scheint beruhigt zu sein. Ich hoffe, ich kann alle meine Zweifel klären.


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